[Gastbeitrag] Wenn Rechtskonservative politische Strategien feiern, die von rotgrünen Minderheitsregierungen entworfen und vertreten werden, und linkslastige Weltenretter sich plötzlich mit Bolsonaro im Boot wiederfinden, der SARS-CoV-2 genau wie sie für eine lächerliche Grippevariante hält, demonstrative Beruhigungsbäder in der Menge nimmt, dann spätestens ahnt man, wie sehr die bisherigen, sorgsam gepflegten Schlachtaufstellungen bei den Games of Corona inzwischen durcheinandergewirbelt sind. Die Besonnensten unter den öffentlich wahrnehmbaren Streitern erlauben sich immerhin, ihre Unsicherheit nicht in fußstampfende Absolutismen zu verwandeln, sondern sie bekennen sich einfach dazu, wenig zu wissen und in einem Wechselbad der Gefühle zu stecken.
Kann man das Chaos noch irgendwie ordnen? Warum nicht? So irrational wie jeder vom anderen glaubt, reagieren wir vielleicht gar nicht. Wenn man weiß, dass sich das Virus durch Kontakte von Mensch zu Mensch überträgt, sich anschaut, dass es besonders bei Massenveranstaltungen und in geschlossenen Räumen zu einer exponentiellen Verbreitung (sehr wahrscheinlich über Aerosole) kommt, wenn man dann die Infektionsraten und Mortalitäten ins Verhältnis zu Bevölkerungen und Besiedlungsdichten setzt, dann kann man bei Millionen von Toten landen. Szenarien also, wie das des RKI von 2012. Wenn sich das Ganze dann mit Bildern von Krisenkommandos in Vollschutz und herumliegenden Leichen zu bewahrheiten scheint, dann zieht man eine Notbremse. Soweit verständlich. Soweit passiert.
Die Ausgestaltung einer solchen Bremse obliegt wie man gesehen hat, nicht der WHO, nicht der UN, nicht der EU sondern der totgesagten nationalen Politik. Politiker sind allerdings auch dort bestrebt, für sich die maximale Haftungsbeschränkung zu erzielen. Und zwar koste es (die Menschen da draußen) was es wolle. Hier liegt der Hase im Pfeffer, denn, sie greifen in ihrer Ungewissheit zum Sperrfeuer. 100m darf der Israeli vom Hauseingang weg, 200m der Italiener und wer das Pech hat in Südafrika zu leben, muss sich damit begnügen, aus dem Fenster zu blicken. Der Schwedeneisbecher in Stockholm darf nach wie vor in der Fußgängerzone gelöffelt werden. Lockdown nennen wir das heterogene globale Dornröschenschloß.
In den Vorstellungen der meisten, so auch in meiner, war dies akzeptabel, um das Virus auszuhungern und ein Worstcase-Szenario mit Stapeln von Särgen in Eishallen zu vermeiden. Das galt auch dann noch, als bekannt wurde, dass sich das Durchschnittsalter der an SarsCov19 Verstorbenen bei ca. 80 Jahren einpegelt. Die vielen Belehrungen übrigens, mit denen bei jeder sich bietenden Gelegenheit darauf verwiesen wird, dass es sich hierbei um MIT Corona Verstorbene handeln würde, empfinde ich nach wie vor als zynisch. Das kollektive Luftanhalten hätte, so war die erste instinktive Annahme, drei bis vier Wochen dauern sollen. Nun deuten die Kurven tatsächlich eine Entspannung der Situation an. Inwieweit dies auf die drastischen Restriktionen zurückgeht, oder ob das Abflauen auch mit feinerer Klinge hätte erreicht werden können, bleibt wahrscheinlich noch lange unklar.
Länder die zeitig und rigoros reagierten, darunter asiatische Staaten, Israel, Neuseeland und – mit Abstrichen – Österreich und Deutschland haben jedenfalls die aus Norditalien bekannten Schreckensbilder vermeiden können und schneiden bis jetzt gut ab. Auch wenn das erwünschte Aushungern so einfach offenbar nicht funktioniert. In Goßbritannien, Spanien, Belgien und den USA sehen die Zahlen Stand heute noch schlecht aus, während aus dicht besiedelten Gebieten in Indien, Pakistan und Afrika überhaupt keine verlässlichen Daten vorliegen. Unklar ob da noch was kommt und in welchem Ausmaß.
Die Gefährlichkeit des Virus wird indes nach wie vor durch Berichte über drastische Krankheitsverläufe, erhebliche medizinische Folgeschäden, ein eventuelles Ausbleiben der Immunität nach überstandener Erkrankung und die Ankündigung weiterer Infektionswellen unterstrichen. Auch noch nicht im Fokus – wenn irgendwann nächstes Jahr ein Impfstoff zur Verfügung steht, wird sich dieser erheblichen Vorbehalten ausgesetzt sehen. Wir werden Diskussionen über Impfpflicht, mögliche Nebenwirkungen und Geschäftemacherei erleben.
Ökonomische und soziale Verwerfungen: Mehr als Komplikationen?
Klar ist aber auch, dass bereits der nächste schleichende Tod in der Luft hängt. Eine Weltwirtschaftskrise, die wie ein Tsunami, nach dem Zurückziehen des Wasser über uns rollen könnte, wenn wir nicht die schwer angeschlagene Arbeitswelt schleunigst wieder reparieren. Es ist sicher, dass noch monatelang die Reisebranche, Fluggesellschaften, Gastronomie und Kultur unter erheblichen Umsatzeinbrüchen leiden werden. Mit ihnen werden Banken durch Kreditausfälle ins Trudeln geraten, Finanzierungen von Unternehmen scheitern und ein gewaltiges Schreien nach weiteren Hilfen einsetzen. Allein das Thema Eurobonds könnte zur Implosion Europas und mit ihm des Euro führen. Es scheint keineswegs gewiss, dass Deutschland wie von vielen erhofft, aus einer solchen Entwicklung gestärkt hervortritt. Also wird Deutschland zahlen. Das Kind wird anders heißen aber sehr teuer sein. Über die insgesamt drohenden, ökonomischen Kollateralschäden wissen wir noch viel weniger als über Corona-Viren. Aber es steht schon jetzt zu befürchten, dass es heftig wird. Materiell und gesundheitlich.
Vor diesem Hintergrund mit zahlreichen Unbekannten ist es die völlig falsche Diskussion, die noch immer weitgehend ungeklärten medizinischen Risiken der Pandemie gegen die drohenden wirtschaftlichen Schäden aufzurechnen zu wollen. Denn es steht ohnehin nur ein einziger gangbarer Weg offen. Das Sperrfeuer, über dessen Wirksamkeit sich Epidemiologen, Mathematiker und Statisten wahrscheinlich noch Jahre streiten werden, muss schnellstens auf Einzelfeuer umgestellt werden. Wir brauchen eine kleinteiligere, auf den Schutz des Individuums und der Risikogruppen konzentrierte Strategie. Begleitet von einer weitgehenden Normalisierung des öffentlichen Lebens.
Hierbei scheint es ausreichend, große Menschenansammlungen in Innenräumen, wo es möglich ist, zu vermeiden, ab einer gewissen Frequentierung dort Masken vorzuschreiben, aber eben nur dort, wo auch tatsächliche Risiken bestehen. Spaziergänge in Parks und im mässig besuchten, öffentlichen Straßenraum mit Mundschutz mögen der Psyche dienen, medizinisch sinnvoll sind sie nicht und es dürfte auch eine Frage der Zeit sein, bis sich erste Zeitgenossen der willkommenen Anonymisierung bedienen, um ihr ganz eigenes Süppchen zu kochen. Auf Abstände und Hygienemaßnahmen wiederum muss weiter geachtet werden bis Entwarnung gegeben wird. Aber auch hier geht es vorrangig um größere Gruppen, nicht um das Verhindern einer zehnköpfigen Geburtstagsparty.
Schulen sollten die Gelegenheit jetzt nutzen, die ohnehin viel zu großen Klassen zu halbieren und die überfällige Digitalisierung voranzutreiben. Ausgangssperren und die Schließung von Läden, Gaststätten und Dienstleistungen müssen beendet werden. Vielleicht sollte die Gesellschaft auch darüber nachdenken, ob es der richtige Weg ist, Kleinkinder in Ganztageseinrichtungen zu halten oder ob man die natürliche „Verwahranstalt“ Familie wiederbelebt. Den hier und da spürbaren, politelitären Gelüsten an den neuen Autoritätsräumen sollten verfassungsrechtliche Grenzen aufgezeigt werden. Schließlich geht es nicht um das Überleben von Parteien und Regierungen sondern um das Leben von Menschen. Weniger Geschrei, mehr Intelligenz.
Und ein “Robert-Herunterkoch-Institut” wäre ganz gut.
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Autor: Rocco Burggraf [Gastbeitrag]
Links
COVID-19, umgangssprachlich Corona (Wikipedia)
COVID-19-Pandemie (Wikipedia)
COVID-19-Pandemie in Deutschland (Wikipedia)
Zuletzt aktualisiert: 2020-05-09
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