Professor Rainer Mausfeld über das absehbare Ende der „Demokratie”. Abdruck aus dem Buch „Fassadendemokratie und Tiefer Staat”.
Parlamentswahlen spielen offenkundig in kapitalistischen Demokratien für alle grundlegenden politischen Entscheidungen keine Rolle mehr. Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.
Diese Entwicklung war bereits in der Erfindung der repräsentativen Demokratie angelegt und wurde seitdem strukturell, prozedural und ideologisch konsequent und systematisch vorangetrieben. Sie findet in den vergangenen Jahrzehnten ihren Abschluss in der neoliberalen Extremform des Kapitalismus. Die hier entstandenen Organisationsformen eines autoritären Kapitalismus haben sich des Staates, der verbliebenen Hülsen einer repräsentativen Demokratie und aller relevanten Entscheidungsmechanismen des Gemeinwesens in totalitärer Weise bemächtigt. Da die relevanten politischen Entscheidungen nicht mehr durch demokratisch legitimierte Instanzen bestimmt werden, sondern durch öffentlich nicht sichtbare Akteure, werden die mit einer solchen Herrschaftsform verbundenen Phänomene gelegentlich als „Tiefer Staat” bezeichnet. Eine solche Bezeichnung ist deskriptiv-phänomenologisch verständlich; sie birgt jedoch die Gefahr , ein tiefer gehendes Verständnis der Natur dieser neuartigen Organisationsformen der Macht zu verstellen und somit die Entwicklung geeigneter Formen eines politischen Widerstandes zu blockieren.
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Demokratie ohne Demokratie
Die Idee der Demokratie hat eine recht eigenartige Geschichte. Zweimal, d.h. im Athen der Antike und in der Zeit der Aufklärung, entfaltete und materialisierte sie sich kurzzeitig als historisch singuläre Erscheinung inmitten einer Kontinuität oligarchischer und autoritärer Herrschaftsformen und der maßlosen Verachtung, die die jeweiligen „Eliten” gegen das „gemeine Volk” und die „Massen” hegten. Ihren Überzeugungen nach sei das „Volk” überwiegend unfähig, sich am Gemeinwohl zu orientieren. Danach führe die Demokratie nahezu zwangsläufig zu einer „Pöbelherrschaft”, was insbesondere daran erkennbar sei, dass die Mehrzahl der Nichtbesitzenden die Eigentumsverteilungen zu ihren Gunsten zu korrigieren suche. Die Herrschaftsform einer Demokratie sei also schon ihrem Wesen nach nicht geeignet, eine dem Gemeinwohl dienende gesellschaftliche Ordnung zu garantieren. Die Stabilität der herrschenden Eigentumsordnung sei umso gefährdeter, je mehr eine Demokratie die Form einer wirklichen, also partizipatorischen Demokratie annehme.
Prof. Rainer Mausfeld: Warum schweigen die Lämmer? Psychologie, Demokratie, Meinungs-, Aufmerksamkeits- und Empörungsmanagement
Zu den Kernelementen einer wirklichen Demokratie gehört, dass „das Volk“ souverän im Sinne der „gesellschaftlichen Kompetenz der Selbstgesetzgebung“ ist und alle Staatsapparate dem demokratischen Gesetz untergeordnet sind. Die athenische Demokratie, in der „die Regierung im ganz buchstäblichen Sinn eine „Regierung durch das Volk“ war, war durch eine Herrschaft des Gesetzes und eine Teilhabe am Entscheidungsprozess gekennzeichnet. Jedoch fehlte eine rechtliche Sicherung der Eigentumsordnung, wie sie kennzeichnend für „liberale“ Demokratiekonzeptionen ist. Erst mit der Konzeption der „liberalen Demokratie“ wurden die Begriffe Freiheit und Eigentum aneinander gebunden. Partizipatorische Demokratiekonzeptionen, die die Grundgedanken der athenischen Demokratie weiterzuentwickeln suchten, wurden und werden daher von der Antike bis heute von den Besitzenden und von allen, die in der jeweiligen Gesellschaft einen höheren Status innehaben, ebenso bekämpft wie von der Mehrzahl der führenden Intellektuellen. Die Sozialgeschichte ebenso wie die politische Ideengeschichte ist seit ihren Anfängen durchzogen von einer tiefen Demokratiefeindlichkeit. Erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts trat ein Wandel ein, in dessen Gefolge „Demokratie” heute in der westlichen Welt als einzig legitimierte Herrschaftsform gilt.
Dieser Wandel ist erstaunlich und erklärungsbedürftig. Der wesentliche Grund liegt darin – wie in einer Vielzahl von sozialhistorischen und ideengeschichtlichen Studien aufgezeigt wurde –, dass man Wege fand, die Faszination, die die Idee der Demokratie für das Volk entfaltete, für Zwecke der politischen Machtausübung zu nutzen. Dazu war es nötig, die Demokratie für die jeweiligen Machteliten „risikofrei” zu gestalten. Alex Carey zeigt in seinem Klassiker „Taking the Risk out of Democracy“ entlang historischer Linien auf, wie sich dies mit wesentlicher Mithilfe der Sozialwissenschaften und der Psychologie bewerkstelligen ließ. Nur unter der Voraussetzung, dass auch in einer Demokratie der Status herrschender Eliten nicht gefährdet wird, konnte Demokratie zu einer auch von den jeweiligen Zentren der Macht anerkannten Herrschaftsform werden. In einer geeignet konzipierten „Demokratie ohne Demokratie” sollte also die Kontrolle über alle relevanten Entscheidungsprozesse weiterhin bei den jeweiligen Machteliten verbleiben. Dazu war es erforderlich, die Demokratie in geeigneter Weise umzudefinieren und zudem strukturell, prozedural und ideologisch so abzusichern, dass die Eigentumsordnung nicht gefährdet werden konnte.
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Rainer Mausfeld: Die Wahrheit über die Demokratie
(Teil 1) Demokratie ohne Demokratie
(Teil 2) Repräsentative Demokratie als Elitendemokratie
(Teil 3) Autoritäre Elemente in der kapitalistischen Demokratie
(Teil 4) Demokratie als Gefahr für den Elitenkonsens | „Marktkonforme Demokratie“
(Teil 5) Postdemokratie als totalitäre Herrschaft | „Tiefer Staat“
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Prof. Dr. Bernd Rabehl über die 68er und die Zuwanderung
https://youtu.be/_XeiMm309aY
Die bekannte indische Globalisiertungkritikerin Arundhati Roy hat in ihrer Rede vom 13. Mai 2003 in NYC wesentliche Kritikpunkte an Theorie & Praxis westlicher Demokratien formuliert. Ich denke, dass das nachfolgende Zitat aus dieser Rede eine gute Ergänzung zu diesem sehr umfangreichen Artikel von Mausfeld darstellt und dem eiligen Leser einen ersten Einstieg in die Thematik vermittelt, um die es hier geht.
“Die Demokratie, die Heilige Kuh der modernen Welt, befindet sich in der Krise. Und es ist eine tiefgreifende Krise. Im Namen der Demokratie werden alle Arten von Verbrechen begangen. Aus ihr wurde wenig mehr als ein ausgehöhltes Wort, eine hübsche Schale, jeglichen Inhalts oder Sinns entleert. Sie ist so, wie man sie haben will. Die Demokratie ist die Hure der freien Welt, bereit, sich nach Wunsch an- und auszuziehen, bereit, die verschiedensten Geschmäcker zufriedenzustellen. Man nutzt und missbraucht sie nach Belieben.
Bis vor Kurzem, noch in die 80er Jahre hinein, schien es so, als könnte die Demokratie tatsächlich ein gewisses Maß an echter sozialer Gerechtigkeit gewährleisten.
Aber moderne Demokratien existieren lange genug und neoliberale Kapitalisten hatten genug Zeit, um zu lernen, wie man sie untergräbt. Sie verstehen sich meisterlich in der Technik, die Instrumente der Demokratie zu infiltrieren – die ‘unabhängige’ Justiz, die ‘freie’ Presse, das Parlament – und sie zu ihren Zwecken umzuformen. Das Projekt der Unternehmensglobalisierung hat den Code geknackt. Eine freie Presse, freie Wahlen und eine freie Justiz haben wenig Bedeutung, wenn der freie Markt sie zu einer Ware gemacht hat, die meistbietend verkauft wird.”
Aus einer Rede von Arundhati Roy
http://schelmenstreich.de/wp-content/uploads/2017/09/Roy.Instantmischung.pdf
Überlegungen zur Herstellung echter Demokratie in Massengesellschaften
Hierzu 2 Ansätze:
1) Direkte Demokratie (Grundsatzentscheidungen werden wie in der Schweiz per Referenden (verbindliche Volkabstimmungen) getroffen. Problem: Bei diesem Verfahren droht eine Forcierung manipulativer Propaganda, Indoktrination und Gehirnwäsche.
2) Einsetzung eines völlig unabhängigen Ältestenrates als Kontrollgremium mit Vetorecht, dessen Mitglieder per Los bestimmt werden. Die Mitglieder dieses Ältestenrates sollten bestimmte Kriterien erfüllen. Diese Kriterien könnten sein: Lebenserfahrung, z.B. Mindestalter 40 Jahre, Befähigung, z.B. abgeschlossene Berufsausbildung oder Nachweis mindestens 10- jähriger beruflicher Praxis, Zukunftsorientierung, z.B. Zeugung eines leiblichen Kindes. Weitere mögliche Spezifikationen: Die Mitgliedschaft sollte auf eine Amtsperiode beschränkt sein. Ich kann mir vorstellen, dass ein Ältestenrat aus 100 Personen besteht, von denen jedes Jahr 25 Personen ausscheiden und 25 neu bestimmt werden.
Danke für diese Stellungnahme.