Immer wieder begegnet einem in Debatten und Foren ein Aufschäumen, ein Empören gegen die übliche Gedenk-Kultur zu den Opfern der Zeit des NS-Regimes. Es heißt, nun müsse aber mal endlich Schluss sein mit diesem „Schuldkult“, ob wir denn noch ewig damit herumlaufen sollen, was habe man damit denn noch zu tun und ähnliches.
Wenn man dann einräumt, dass es Denkmale geben soll, dann wird gefordert, die sollten „wenn dann bitteschön ALLEN Opfern des Krieges und der Verfolgung gelten“. So wird auch angesichts der von Björn Höcke wieder aufgebrachten Debatte über das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin geltend gemacht, das sei ein „Mahnmal unserer Schande“, würde den „Schuldkult“ nur perpetuieren und zudem „einer Opfergruppe den Vorrang geben“.
Solche und ähnliche Ansichten habe ich nun seit Jahren immer wieder gelesen und gehört – und dabei fast immer festgestellt, dass es Menschen aus den NEUEN BUNDESLÄNDERN sind, die so denken, nur wenige aus dem Westen – wie Höcke selber – kamen hinzu. Im Osten scheint es, so mein Eindruck nach vielen Debatten, fast eine Art common sense zu sein, so zu denken – im Westen sind es dagegen im Grunde nur wenige Vertreter, die hier eher Ausnahmen sind.
Es ist nun ohne Zweifel falsch, wenn man aus westlicher Sicht einfach über die „Ossis“ urteilt und ihre Haltung als rückständig, absurd oder gar „rechts“ brandmarkt – genauso aber ist die leider sehr oft anzutreffende Haltung vieler Ostdeutscher bedenklich, uns Westdeutsche als „umerzogene, antipatriotische Vaterlandsverräter“ zu diffamieren. Beides geht fehl und verkennt die eigentlichen Hintergründe der bis heute tief unterschiedlichen kollektiven Haltungen zum Thema. Diese Haltungen zu erkennen ist NICHT Spalterei, sondern im Gegenteil ein Anfang, sich gegenseitig überhaupt einmal zu verstehen und zu respektieren.
Gedenk-Kultur im Westen
Schauen wir zunächst auf die Entwicklung im Westen, die ich als 1967 hier Geborener auch besser kenne (mein eigenes Miterleben habe ich durch Lokalstudien, viele Gespräche mit Zeitzeugen und ein Studium der Geschichte auch nach rückwärts erweitern können). Nach dem Zusammenbruch 1945 gab es in Ost wie West einige Jahre ein scharfes Durchgreifen der Alliierten und viele Urteile, Lagerhaft und auch Todesstrafen für die schlimmsten Täter des NS-Regimes. Nach Übergabe der Entnazifizierungsverfahren in deutsche Hände kam es im Westen dann seit 1948 zu einem „Schlussstrich“-Denken, man wollte nun nach vorne schauen und aufbauen. So sehr man dieses Verdrängen kritisieren kann – es hatte auch seine Berechtigung, selbst in der Psychologie weiß man heute, dass Verdrängen auch eine Schutzfunktion haben und für eine Zeitlang notwendig sein kann.
So konnte man sich dem Aufbau widmen, der viel Gutes hatte, auch die junge Demokratie war von den meisten ehrlich gemeint. Die Beschäftigung mit dem Krieg war damals vor allem auf die EIGENEN Opfer gerichtet, in jedem Dorf zeugen noch heute Gedenksteine mit den Namen JEDES Gefallenen oder Vermissten auch des 2. Weltkrieges davon, ebenso in Kirchen. Auch den Ostvertriebenen widmete man zahlreiche Gedenkorte, umfangreiche Publikationen dokumentieren bis heute deren Schicksal und Leiden. Erinnerungen an den Krieg selber waren geprägt von den alten Kampfgenossen, die ihre Verbindungen pflegten, die Wehrmacht wurde als nichtnazistisch und soldatisch von den SS-Schergen gesondert angesehen und weithin in Ehren gehalten, auch wenn man zugab, dass sie für falsche Ziele sich hatte einspannen lassen.
Erst mit dem Eichmann-Prozess in Israel und den darauf folgenden Auschwitz-Prozessen in Frankfurt meldete sich dann seit den 60ern das Verdrängte zurück, die „68er“ stellten ihren Eltern Fragen über die Zeit der Diktatur. Damals begann das Aufarbeiten der deutschen Verbrechen, zunächst mehr auf der großen Ebene, dann seit den 80ern zunehmend bis hin in die Gemeinden in Chroniken, Forschung über Zwangsarbeiter und vieles mehr. Aus diesen Impulsen entstanden neue Gedenkstellen, seit den 90ern die Stolpersteine, und am Ende dann auch, vor dem Umzug der Regierung nach Berlin, das Denkmal für die ermordeten Juden in Berlin, das ich im übrigen dem unfassbaren Leid angemessen in Ausführung wie Standort empfinde. Man kann also sagen: diese Gedenkkultur war nur möglich WEIL ES VORHER EINE PHASE DES VERDRÄNGENS GAB und auch eine Phase in der man ausgiebig der EIGENEN OPFER in Ruhe gedenken konnte, nur aus diesem Gleichgewicht konnte sich in einem langsamen Prozess eine Bereitschaft auch zum Anschauen und Erinnern an diese Schreckenstaten der Väter und Vorväter herausbilden.
Gedenk-Kultur im Osten
Ganz anders war die Entwicklung nun im Osten, in der ehem. DDR. Ohne hier eigene Erfahrung zu besitzen (wenn das Folgende Fehler oder mangelnde Differenzierung enthält bin ich für Kritik sehr gern zu haben), gab es nach allem was mir bekannt ist, zunächst eine ähnlich scharfe Verfolgung von NS-Verbrechen wie im Westen, wenn nicht schärfer. Dann aber, seit etwa 1948/49, übernahmen die erklärten „Antifaschisten“ der SED die alleinige Macht, der Antifaschismus war nun Staatsdoktrin, alles Konservative wurde verfolgt. Das Verdrängen der eigenen Verstrickungen erfolgte im Osten auf gänzlich andere Weise: die Faschisten projizierte man nach Moskauer Doktrin allein in den kapitalistischen WESTEN, dort waren sämtliche Nazis, man selber war wie aus dem Paradies neu entsprungen geläutert, unschuldig und rein, ein „neuer Mensch“ in der Pax sowjetica. Dieses Abschneiden sämtlicher Tradition und Verantwortungsgefühle für die damals ja noch junge Vergangenheit ist m.E. der hauptsächliche Grund für das sehr geringe Verständnis im Osten für eine Verantwortung unseres Volkes auch für die Schattenseiten unserer Geschichte.
Dazu kam das nicht ausreichend erlaubte Betrauern der eigenen Opfer und Verluste. Die „Völkerverständigung“ mit dem Osten war vorgeschrieben, Ressentiments über die verlorenen Gebiete im Osten unzulässig, – das Schauen auf die eigenen Opfer nur zugelassen, sofern es britisch-amerikanische Bombenangriffe wie auf Dresden betraf. Die Denkmäler in den Dörfern und Städten durften immer nur pauschal an „sämtliche Opfer des Faschismus“ usw. erinnern, konkrete Namensnennungen wie im Westen waren verpönt. So war im Osten also zweierlei gegeben: das Exportieren der Schuldgefühle nach dem bösen Westen und sich selber wie neugeboren fühlen – und zweitens damit Hand in Hand ein Mangel an Trauern-Dürfen über die eigenen Opfer und Verluste. Beides schneidet Fäden zur eigenen Geschichte ab.
Die Folgen dieser Umstände zeigten sich dann spätestens in den 80er Jahren, als es überall in der DDR rechte Jugendliche gab, die als junge Wilde den Aufstand probten. Als dann die Wende unverhofft kam, brachen lange unterdrückte nationale Gefühle und Kräfte sich ihre Bahn und schlugen, wie alles was unterdrückt wird, ins Gegenteil aus, so dass rechtsextreme Hetzer aus dem Westen wie Michael Kühnen und Geheimdienststrukturen wie die NPD leichtes Spiel hatten und viele „begeistern“ konnten. Die fehlende Phase des Trauerns um die eigenen Opfer und Verluste brach sich in einem massenhaft aufkommenden Revisionismus Bahn, der vor allem auf die Untaten gegen Deutsche pocht und sich einbildet, mit denen hätten wir uns noch viel zu wenig beschäftigt, was für den Osten zutrifft aber für den Westen durchaus nicht (dass die allzu reinen Westen der Alliierten zu hinterfragen sind, ist eine andere Sache, hier können sich Ost und West treffen und zusammenarbeiten, auch zur Frage, wie konnten die Nazis überhaupt an die Macht kommen … ).
Unterschiede anerkennen
Es fragt sich abschließend, wie man nun angesichts der hier skizzierten tiefen Unterschiede im Umgang mit dem Faschismus und den Verbrechen des Nazismus in Ost und West zu einer Haltung für unsere Zeit kommen kann. Ich kann hier nur sagen: es ist m.E. angezeigt, diese tiefen Unterschiede überhaupt einmal zu erkennen und anzuerkennen. Der Weg ist die Dezentralisierung: man kann 40 Jahre ganz anderer Erlebnisse nicht mit einem Federstrich hinwegerklären, vor allem der Osten hat trotz Beitrittes zur Bundesrepublik ein Recht darauf, in aller Ruhe seine Erfahrungen zu verarbeiten – die grassierende DDR-Verklärung ist ein klares Symptom für diese nicht ausreichend möglichen Prozesse. Ein Anfang wäre zum Beispiel, die Archivbestände der DDR aus dem Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde wieder herauszusondern und an ihren alten Standort in Potsdam rückzuführen – und dort entsprechende Forschungsstellen zur Geschichte der DDR einzurichten. Dann ist auch über eigene ostdeutsche Medien nachzudenken, die über die heimatlichen MDR usw. hinausgehen. Die wenigen „nationalen“ Stätten wie in Berlin – nun, da muss man sich eben zusammensetzen und einigen, in Dialoge und Prozesse kommen, bei denen die hier nur angedeuteten Unterschiede dann ggf. noch weitaus differenzierter zutage treten – was ich nur begrüßen kann. Unterschiede erkennen und anerkennen – Leben und Leben lassen – ist Frieden.
Anita Lasker-Wallfisch in der Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag, 31.01.2018 | Die heutige Jugend in Deutschland trägt keine Schuld am Holocaust, aber sie muss die Verantwortung dafür übernehmen, dass so etwas nie wieder in Deutschland geschehen kann (ab 13:56). | Besonderheit des Holocaust: Industrieller Massenmord, Menschen wurden recyled (ab 15:15). Zitat: “Inzwischen sind über 70 Jahre vergangen. Die Generation der Täter gibt es nicht mehr. Man kann es eigentlich der heutigen Jugend nicht verübeln, dass sie sich nicht mit den Verbrechen identifizieren wollen. Aber leugnen, dass auch das zur deutschen Vergangenheit gehört, darf nicht sein.” (Anita Lasker-Wallfisch, Cellistin, Mitglied des ‘Mädchenorchsters’ in Auschwitz, Holocaust- Überlebende, am 31.01.2018 im Bundestag)
[Autor: Jean Benedicte, überarbeitet 24.01.2017]
Links:
‘Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken’
Denkwürdige Rede von Martin Walser [E], Paulskirche Frankfurt, 1998
‘Die zweite Lebenslüge der Bundesrepublik: Wir sind wieder “normal” geworden’
Aufsatz von Jürgen Habermas in der (1992, Zeit) [E]
Umstrittene Rede von Björn Höcke vom 17.01.2017
Bilder:
Anteeru [CC BY-SA]
Alexander Blum [CC BY-SA]
Kriegerdenkmal 2. Weltkrieg (Ausschnitt), by TaubeNuss [GFDL or CC-BY-SA-3.0], via Wikimedia Commons
Jedenfalls eignet sich das gigantische Verbrechen des Holocaust nicht dazu, von deutschen Politikern als Legitimation für eine wenig bürgerfreundliche Politik instrumentalisiert zu werden, die zu Altersarmut, Wohnungsnot, Niedriglöhnen und mehr Gewalt im öffentlichen Raum führt. Er ist vielmehr eine Aufforderung an ALLE Menschen, es in Gegenwart und Zukunft besser zu machen und daher eine verantwortungsethische Politik auf Basis eines Ausgleichs von Interessen und fairem Geben & Nehmen zu betreiben! Deutsche Sonderwege zählen definitiv nicht dazu!